Mit seinem autobiografischen Werk "Trocken, aber nicht geheilt" legt Richard Müller einen schonungslos ehrlichen Bericht über seine jahrzehntelange Alkoholsucht vor – und über den langen, steinigen Weg hinaus aus der Abhängigkeit. Es ist ein Buch, das gleichermaßen erschüttert, berührt und Mut macht.
Der Autor, Jahrgang 1958, ist eigentlich Elektroingenieur. Nach vielen Jahren im Beruf und später als Lehrer an einer Fachoberschule in Bayern blickt er nun im Ruhestand auf ein Leben zurück, das lange Zeit von Alkohol bestimmt war. Rund 30 Jahre lang kämpfte er mit der Sucht, erlebte Abstürze, Rückfälle und immer wieder den mühsamen Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen. Erst nach unzähligen Anläufen gelang ihm, was viele schon für unmöglich hielten: die dauerhafte Abstinenz. Heute ist Müller seit mehr als 14 Jahren trocken – ein Zustand, den er selbstbewusst, aber auch demütig beschreibt. Denn trocken zu sein heißt für ihn nicht „geheilt“ zu sein, sondern sich jeden Tag aufs Neue mit der eigenen Vergangenheit und den Verlockungen der Sucht auseinanderzusetzen.
Das Besondere an diesem Buch ist die radikale Offenheit, mit der Müller seine Geschichte erzählt. Er beschönigt nichts, spricht von Rückfällen und den tiefsten Momenten seines Lebens ebenso offen wie von den kleinen Erfolgen, die ihm auf dem Weg in die Abstinenz halfen. Dabei bleibt sein Ton sachlich, klar und niemals weinerlich – gerade diese Ehrlichkeit verleiht der Erzählung eine große Glaubwürdigkeit.
Neben der persönlichen Lebensgeschichte geht Müller auch der Frage nach, warum er überhaupt in die Sucht geriet. Er analysiert die psychologischen und sozialen Faktoren, die sein Trinkverhalten beeinflusst haben: familiäre Belastungen, beruflicher Druck, persönliche Unsicherheiten. Durch diese Reflexion öffnet das Buch den Blick über das rein Biografische hinaus. Es zeigt, dass Alkoholsucht nicht nur ein individuelles Schicksal ist, sondern dass sie sich immer auch im Spannungsfeld von Gesellschaft, Umfeld und persönlicher Prägung entwickelt.
Das Werk ist vergleichsweise kompakt gehalten – rund 140 Seiten –, was der Intensität der Lektüre zugutekommt. Es ist kein ausschweifender Roman, sondern ein konzentrierter Erfahrungsbericht, der auf den Punkt bringt, was entscheidend ist. Der klare Aufbau und die schnörkellose Sprache machen das Buch leicht zugänglich, auch für Leserinnen und Leser, die sich bisher wenig mit der Thematik beschäftigt haben.
Natürlich kann man kritisch anmerken, dass "Trocken, aber nicht geheilt" weniger ein klassisches Selbsthilfebuch ist, sondern in erster Linie eine persönliche Lebensgeschichte. Wer wissenschaftliche Tiefe, therapeutische Modelle oder umfassende Gesellschaftsanalyse erwartet, wird hier nicht fündig. Doch gerade diese Begrenzung macht den Wert des Buches aus: Es ist unmittelbar, authentisch und direkt. Statt theoretischer Abhandlungen bekommt man den unverfälschten Einblick in das Leben eines Betroffenen – und genau das kann für andere Betroffene oder Angehörige enorm hilfreich sein.
Fazit:
Richard Müller hat mit "Trocken, aber nicht geheilt" ein eindrucksvolles, ehrliches und bewegendes Buch vorgelegt. Es ist kein lauter Appell, sondern eine stille, umso kraftvollere Erzählung, die zeigt, wie schwierig und doch möglich der Weg aus der Abhängigkeit sein kann. Für Menschen, die selbst betroffen sind, für Angehörige oder einfach für Leserinnen und Leser, die sich mit den Abgründen und Hoffnungen des menschlichen Lebens auseinandersetzen wollen, ist dieses Buch eine lohnenswerte Lektüre.
Es ist nicht die Geschichte einer endgültigen Heilung, sondern der Beweis, dass ein erfülltes Leben trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Suchtgeschichte möglich ist. Ein Werk, das Mut macht, ohne falsche Versprechungen zu machen.